Reisen, lernen und verstehen / Über den Rand des Klassenzimmers hinaus

6:20 Uhr Bielefelder Hauptbahnhof, nach und nach versammeln sich hier Schüler und Schülerinnen der Realschule Senne.

Der frühe Schulbeginn stört diesmal keinen von ihnen, denn um 6:40 Uhr geht`s mit dem IC nach Hannover, zum Flughafen und mit dem Flugzeug weiter nach Istanbul. Von dort reisen sie mit Bus und Fähre weiter zur türkischen Insel Gökceada, Ankunft am nächsten Tag abends.

Die 10 Jugendlichen sind Teil der Erasmus AG der Realschule Senne, die sich zusammen mit 3 Partnerschulen in Dänemark, Griechenland und der Türkei im Rahmen des Erasmus+ Projektes „North, south, east and west – movement in Europe and cohesion through European values“ mit Migration in Europa beschäftigen.

Koordinatorin des Erasmus+ Projektes, das bereits das zweite der Realschule Senne ist, ist die Lehrerin Monika Vafiadis. Schwere Zeiten liegen hinter der Erasmus AG, die während des Lockdowns natürlich ihre Partnerschulen nicht besuchen konnte. Online meetings, chats und online Projekttage ersetzen eben doch nicht das reale Treffen. „Die Motivation war spürbar erwacht, als es klarer wurde, im Mai treffen wir endlich alle anderen“, so Vafiadis.

Der geplanten Reise war schon ein Schüleraustausch im kleinen Rahmen mit Dänemark im Oktober und Dezember vorausgegangen, wobei beide Gruppen das Auswandererhaus in Bremerhaven besucht und sich einen Einblick in die Geschichte von Emigration und Immigration in Deutschland verschafft haben. In Dänemark besuchte man den Friedhof in Kolding. Ungewöhnlicher Lernort? Ja, aber anhand der Geburts- und Sterbeorte auf den Grabsteinen konnte man einige Rückschlüsse auf Wanderbewegungen zwischen Deutschland und Dänemark ziehen. Bei diesen beiden Begegnungen wurde die zum Projekt gehörende Wanderausstellung bestehend aus praktischen Schülerarbeiten begonnen, die von Land zu Land „mitwandert“ und dabei erweitert wird.

Gelebte Migration ist an den meisten deutschen Schulen Alltag für die Jugendlichen. Genauer auf die Hintergründe geschaut, warum Menschen ihr Heimatland verlassen, um in einem anderen Land zu leben und die Schwierigkeiten und Chancen zu verstehen, die damit verbunden sind, haben bisher die wenigsten. Einige der Schülerinnen und Schüler haben selbst Migrationshintergrund wie Eleni (16), Schülerin der Realschule Senne und sind dadurch dem Thema schon etwas näher. die Geschichte der Gastarbeiter:innen in Deutschland und besonders in Bielefeld zu kennen.

Lehrerin Monika Vafiadis erläutert, dass ein Besuch der griechischen Schule in Bielefeld mit den Schülerinnen und Schülern der Realschule Senne im April ein wenig den Blick für die andere Lebenssituation von Migrant:innen geöffnet habe. Warum griechische Jugendliche diese Schule besuchen und keine deutsche, wo sie nach der Schule studieren oder leben möchten oder ob sie neben griechischen Freunden auch Kontakt zu deutschen Jugendlichen haben, waren Fragen, die von Louis (16), Tiara (16), Laura (14) und Floriana (15) gestellt wurden.

Auf der Insel Gökceada ist das Thema Migration sozusagen Existenzgrundlage der dortigen griechischen Minderheitenschule. Zurückzukommen auf die Insel der Großväter, die diese verlassen hatten, als die Lebensbedingungen seit Zugehörigkeit der Insel zum türkischen Staat für die dort lebenden Griechen nahezu unerträglich wurden, stellt für die Schüler und Schülerinnen eine besondere Herausforderung dar.

Auf dem Programm für alle Erasmus Beteiligten steht neben diversen workshops zum Thema Migration auch ein Gespräch mit zwei Einwohnern der Insel, einem Türken und einem Griechen, die seit Kindheit befreundet sind. Ihre Grundüberzeugung könnte sowohl für die weitere Erasmusarbeit als auch für den Umgang mit Migranten richtungsweisend sein: „Uns kümmert die Politik unserer Länder nicht, unsere Freundschaft ist uns wichtiger!“

Mai 2022

Erasmus Schüler:innen der RS Senne, des 1.Gymnasio Xanthis, der Özel Gökceada Rum Ortaokulu und der Munkevaenget Skole in Troia